Die Ölindustrie prägt in Kanada ganze Landstriche. Die Folgen davon sind verheerend für die Umwelt, fürs Klima und für die Bevölkerung – insbesondere für die indigenen Völker.

Ein Gewitter braut sich über dem Reservat der Aamjiwnaang First Nation in Sarnia in der Provinz Ontario zusammen, während Baskut Tuncak am Ufer des St. Clair River steht. Der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und toxische Substanzen hat gerade erfahren, dass 1985 über 11 000 Liter giftiges Lösungsmittel aus einer Fabrik der Firma Dow Chemical in den Fluss gesickert sind. Man nennt die Gegend um Sarnia nicht ohne Grund auch «Chemical Valley» – 62 Ölraffinerien und Chemiefabriken gibt es hier auf einer Fläche von etwa 40 Quadratkilometern. Tuncaks einmonatige Reise durch Kanada neigt sich am St. Clair River ihrem Ende zu. Er hörte hier Scherze, man solle einen gefangenen Hecht am besten am Schwanz festhalten und zweimal kräftig schütteln wie ein altes Thermometer, damit sich das Quecksilber im Kopf des Fisches sammelt. Er sah, wie nahe die Ölraffinerien und die Fabriken im Chemical Valley bei Wohnhäusern liegen – einige teilen sich sogar einen Zaun. Ein Indigener erklärte ihm obendrein, wie normal die toxische Umgebung für die Bevölkerung geworden ist. Ihm sei bis zur fünften Klasse nicht bewusst gewesen, dass Wolken natürlich entstehen. Er habe immer geglaubt, sie kämen aus den Industrieschornsteinen.

Dass so viele Chemiefabriken und Raffinieren auf engstem Raum die Gesundheit der ansässigen Bevölkerung gefährden, ist den Aamjiwnaang längstens klar. In den frühen Nullerjahren haben Untersuchungen ergeben, dass das Geschlechterverhältnis bei den Geburten immer mehr auseinanderdriftet. Anstatt bei den üblichen 50:50 lag das Verhältnis bei 65:35 zugunsten der Mädchen – eine Abweichung, die bei anderen Populationen, die den gleichen giftigen Stoffen ausgesetzt waren, ebenfalls beobachtet wurde. 2004 und 2005 befragte die Aamjiwnaang-Aktivistin Ada Lockridge Angehörige ihres Volkes nach ihren Krankheitsgeschichten und bildete die Antworten auf lebensgrossen Darstellungen von Körpern ab: gelbe Kreise für Krebsarten, orange für schwere chronische Atemwegs- und Nebenhöhlenerkrankungen, gelbe Rechtecke für Fehlgeburten und so weiter. Die identifizierten Muster waren eindeutig. Doch die Stichprobengrösse von 850 Personen wurde für wissenschaftliche Standards als zu gering erachtet, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Als Reaktion darauf liess das County 2007 eine eigene Studie erstellen, die keine alarmierenden Resultate lieferte – was angesichts der Tatsache, dass die meisten der 123 000 Einwohnerinnen und Einwohner des Countys nicht in einem Umkreis von 25 Kilometern um die Chemieanlagen wohnen, nicht weiter erstaunt. «Warum muss ich bloss so einen harten Kampf führen?», fragt sich Lockridge. «Es sollte nicht in unserer Verantwortung liegen, über alles Bescheid zu wissen, alles beweisen zu können. Wenn überhaupt, dann sollten wir nicht mehr tun müssen, als Alarm zu schlagen. Es ist doch die Aufgabe der Regierung, zu forschen und entsprechende Regeln zu erlassen.»

Mitglieder der Aamjiwnaang First Nation beim jährlichen Hechtfisch-Derby am St. Clair River in ihrem Reservat in der Provinz Ontario.

Quecksilber, Arsen und Unmengen Wasser

Das Öl, das in Sarnia verarbeitet wird, gelangt mit Pipelines aus weit entfernten Gebieten ins Chemical Valley. Eine der wichtigsten Quellen liegt in der mehrere tausend Kilometer nordwestlich von Sarnia gelegenen Provinz Alberta, wo sich riesige Erdölvorkommen im Untergrund befinden. Doch es ist nicht flüssiges Öl, das sich einfach mit Bohrtürmen an die Oberfläche pumpen lässt. Was hier auf einer Fläche grösser als England im Untergrund lagert, sind Ölsande. Das heisst, das Öl steckt in der Form von Bitumen – im Prinzip Strassenasphalt – im Boden. Es wird entweder im Tagebau abgebaut, was riesige, hässliche Narben in der Landschaft hinterlässt, oder mit sogenannten In-situ-Verfahren im Untergrund verflüssigt und anschliessend hochgepumpt. Dabei kommen hochgiftige Chemikalien wie Quecksilber oder Arsen zum Einsatz. Wie in Sarnia, Ontario, ist es auch in Alberta vor allem die indigene Bevölkerung, die unter der Ölindustrie leidet.

Anthony Cormier beim Rauchen in einem Camp für Ölarbeiter nördlich von Fort McMurray.

Alarmierend viele Krebsfälle

Fort Chipewyan liegt gut 200 Kilometer stromabwärts vom riesigen Athabasca-Ölsandfeld in Alberta. Die Bevölkerung des Weilers setzt sich hauptsächlich aus Indigenen zusammen. Hier arbeitete Dr. John O’Connor von 2000 bis 2015 als Hausarzt. In dieser Zeit konnte er eine auffällige Häufung von Gallengangkrebs beobachten, obwohl normalerweise nur eine von 200 000 Personen von dieser seltenen Krebsart betroffen ist. «Seit ich in Fort Chipewyan zu arbeiten begonnen habe, wurden fünf Fälle registriert – bei einer Bevölkerungsgrösse von 1200 Einwohnern», sagt O’Connor. Er glaubt nicht, dass es sich dabei um einen Zufall handelt, angesichts der Umweltveränderungen aufgrund des Ölsandabbaus stromaufwärts.

Die kanadischen Behörden und Ölfirmen weisen jegliche Zusammenhänge zwischen den Umweltveränderungen und der Erdölindustrie von der Hand. Sorgen der Bevölkerung oder Beobachtungen, wie sich die Krankheitsfälle häufen, würden vom Tisch gefegt, sagen hier viele. Auch Dr. O’Connor hat entsprechende Erfahrungen gemacht, als er seine Sorgen öffentlich äusserte. 2007 erhielt er ein Beschwerdeschreiben vom Alberta College of Physicians and Surgeons, der ärztlichen Regulierungsbehörde der Region. In diesem Schreiben wurde O’Connor unterstellt, dass er voreilig Alarm geschlagen, Informationen zurückgehalten und Misstrauen gesät habe. Es dauerte zwei Jahre, bis er rehabilitiert war. Die Krebsbehörde der Provinz Alberta hatte zwar in Fort Chipewyan 30 Prozent mehr Krebsfälle festgestellt als in einer vergleichbaren Gemeinde dieser Grösse und mit ähnlichen demografischen Verhältnissen, doch sie rechtfertigte sich umgehend damit, dass «aufgrund der geringen Bevölkerungsgrösse von Fort Chipewyan keine Interpretationen der Resultate möglich sind». Der behördliche Druck auf die Ölindustrie bleibt entsprechend gering; sie muss nicht beweisen, dass die Umwelt nicht unter der Ölförderung leidet. «Das Vorsorgeprinzip ist auf der Strecke geblieben», meint Dr. O’Connor entschieden. Zwar werden die Firmen dazu angehalten, die regional festgelegten Luftqualitätsstandards einzuhalten, doch für das Erstellen der entsprechenden Studien sind sie selbst verantwortlich und es ist nirgends festgelegt, welche Messmethoden sie anwenden sollen – es gibt strenge und weniger strenge.

Arianna im Garten ihres Grossvaters in Little Buffalo, Alberta. Das Mädchen ist blind und leidet an Gehirntumoren. Ihre Eltern sind überzeugt, dass ihre Gesundheitsprobleme mit der Umweltverschmutzung durch die Ölsandförderung zusammenhängen.
Chelsea und Wade nehmen Abschied von ihrem toten Kind: Fehl- und Totgeburten gehören in Fort McKay, Alberta, zum traurigen Alltag.

Verhandeln statt kämpfen

«Man hat nicht viel davon, wenn man gegen die Ölfirmen ankämpft», meint Lisa Tssessaze nachdenklich. Die Direktorin des Dene Lands and Resource Management vertrat die Interessen der Athabasca Cree First Nation in Fort Chipewyan während zehn Jahren. «Sie werden die Genehmigungen ohnehin erhalten.» Tssessaze setzte deshalb auf Verhandlungen mit der Industrie. Nachdem sich die Athabasca Cree jahrzehntelang gegen sämtliche umweltgefährdenden Projekte gestellt hatten, unterschrieben sie letztes Jahr eine Beteiligungsvereinbarung mit der Firma Teck Resources Limited, die damit rechnet, 30 Kilometer ausserhalb des Indigenen-Reservats täglich 260 000 Fässer Öl zu fördern. Das Ziel der Indigenen: genügend Mittel zur Gründung eines souveränen Staats beschaffen. «Wenn wir autark werden und unseren eigenen Plan für saubere Energie umsetzen können, dann schaffen wir es, uns aus der Abhängigkeit von den Ölsanden zu lösen», ist die erfahrene Verhandlungsführerin Lisa Tssessaze überzeugt.

Mit Hütten gegen Pipelines

Andernorts in Kanada setzen die Indigenen weiterhin auf Widerstand. Verschiedene Gruppierungen versuchen, mit Besetzungen die Errichtung neuer Pipelines zu verhindern. Seit Herbst 2017 baute die Secwepemc First Nation in British Columbia zehn Hütten auf der geplanten Route der Trans-Mountain-Pipeline, die durch Territorium führt, das sich im Besitz der First Nations befindet. Die Erweiterung der Trans-Mountain-Pipeline erhielt erst Mitte Juni dieses Jahres grünes Licht von der kanadischen Regierung – 18 Stunden, nachdem Premierminister Justin Trudeau den Klimanotstand ausgerufen hatte. Ein ähnliches Camp wie in British Columbia, wenn auch um einiges kleiner, steht in der kanadischen Provinz Manitoba über der Enbridge-Pipeline Nummer 3, einer 1660 Kilometer langen Röhre, die für den Transport von Rohöl aus den Ölsanden zu den Raffinerien im Chemical Valley von zentraler Bedeutung ist und die durch eine neue Pipeline mit nahezu doppelter Transportkapazität ersetzt werden soll. «Auf einer Pipeline zu sitzen, ist nicht unbedingt, was ich mir für meine Pension vorgestellt habe», lacht Geraldine McManus, «aber die Ahnen haben mich darum gebeten.» Sie gründete das «Spirit of the Buffalo»-Camp im Juli 2018, um darauf aufmerksam zu machen, was unter der Erde fliesst, um den kanadischen Energietransportmulti Enbridge zu behindern – und um zu beten. «Ob ich hier irgendwas erreichen werde?», fragt sie. «Wer weiss. So kann ich jedenfalls zeigen, dass wir unzufrieden sind. Und ich bete. Ich bete, dass die Pipeline weder bricht noch leckt und dass sie keinen Schaden anrichtet. Derzeit fliesst kein Öl hindurch. Habe ich dazu beigetragen? Das kann ich nicht sagen. Aber ich glaube an die Kraft des Betens.»

Beten gegen die Röhre: Geraldine McManus und Alma Kakikepinac bitten die Götter um Wohlwollen.

Beispielloses Gerichtsverfahren

Der Abbau von Bodenschätzen war ein Eckpfeiler in der Entwicklung der Siedlernation Kanada. Die Energiebranche erwirtschaftet beinahe zehn Prozent des kanadischen Bruttoinlandprodukts – und gefährdet ganze Bevölkerungsgruppen. Eine gründliche Überprüfung der gesamten Staatsbürokratie wäre vonnöten, um eine Korrektur vornehmen zu können. Mit Blick darauf stellt die ganz im Süden des Ölsandgebiets von Alberta gelegene Beaver Lake Cree Nation einen beispiellosen Antrag vor Gericht: Die zunehmende Belastung durch die Gewinnung von fossilen Brennstoffen innerhalb ihres traditionellen Territoriums ist für sie eine direkte Bedrohung ihrer Lebensweise und verletzt ihrer Ansicht nach Artikel 35 des Verfassungsgesetzes, der die vertraglich definierten Rechte der indigenen Menschen anerkennt. Verträge mit dem kanadischen Staat garantieren ihnen nämlich das Recht, auf unbestimmte Zeit in ihrem gesamten Gebiet zu jagen, Fallen auszulegen, zu fischen und Arzneipflanzen zu sammeln. Sämtliche Handlungen, die sie am Ausüben dieser Tätigkeiten hindern, gelten als Vertragsbruch. Es geht in diesem Fall nicht nur um die Giftbrühe, der die Angehörigen der Beaver Lake Cree ausgesetzt sind, sondern um deren Folgen: Sie verlieren ihre traditionelle Nahrungsquelle, müssen mitansehen, wie ihr Land, mit dem sie in einer symbiotischen Beziehung stehen, zerstört wird, sind täglichem Stress ausgesetzt, weil sie nicht wissen, was in der Luft, im Wasser und im Boden ist, und werden an der Ausübung wichtiger Bräuche gehindert.

Es sind heftige Vorwürfe, welche die Indigenen erheben, und die Beschuldigten versuchen, die Cree-Nationen mit Verzögerungstaktiken zu schwächen. «Die Regierung hat bereits jedes Werkzeug aus der Kiste genommen, das sie hat. Sie weiss genau, dass die Ressourcen der Cree bald erschöpft sind, wenn sie so weitermacht», sagt Anwältin Karey Brooks, welche die Indigenen vertritt, und fügt an, dass das Vorgehen des Staats auch die Frage aufwerfe, ob allen Menschen der Zugang zum Recht gewährt ist. Das Recht auf eine gesunde Umwelt in der Verfassung zu verankern, wäre in dieser Angelegenheit hilfreich für die Indigenen. Schon über hundert Länder haben dies getan. Nationale Umweltorganisationen fordern Kanada in einer Kampagne dazu auf, sich bereits vor den Wahlen im Oktober 2019 diesen Ländern anzuschliessen.

Ausgebrannte Autos warten auf dem Abschleppplatz in Fort McKay auf die Identifikation durch ihre ehemaligen Besitzer.
Brandwüste: Die Überreste eines Wohnblocks in einem Vorort von Fort McKay nach dem Grossflächenbrand 2016. Der Abbau von
fossilen Brennstoffen treibt den Klimawandel voran, die Brände werden stets extremer.

UN-Sonderberichterstatter Baskut Tuncak hält am Ende seiner Kanadareise fest: «Es ist auffallend, wie häufig sich Minderheiten, im Speziellen indigene Völker, auf der falschen Seite einer Giftgrenze wiederfinden und dort unter Bedingungen leben müssen, die in anderen Gegenden Kanadas als unzumutbar gälten.»

Autorin: Laurence Butet-Roch, freischaffende Journalistin und Fotografin, dokumentiert seit Jahren die gelebte Wirklichkeit der Aamjiwnaang First Nation in ihrem Heimatland Kanada.

Fotograf: Ian Willms arbeitet als Fotojournalist u.a. für «The New York Times» und «Geo». Er gewann den Greenpeace Photo Award 2018 für sein Projekt über die Ölsande in Alberta.