Dr. Max Liboiron ist eine feministische Umweltwissenschaftlerin und -aktivistin. Sie lehrt und forscht als Assistant Professor an der Memorial University von Neufundland (Kanada) im Fachbereich Geografie zum Thema«Discard Studies» (Abfall-Studien). Mit ihrem Citizen-Science-Projekt Civic Laboratory for Environmental Action Research (CLEAR) und einem Blog nähert sie sich dem Plastikmüll im Ozean aus einer interdisziplinären Perspektive – aus bio-, geo- und sozialwissenschaftlichem Blickwinkel. Sie erforscht auch die Mechanismen des Aktivismus gegen solche globalen Probleme: «Plastik ist ein globales Problem.»

Natürlich gehe ich auch selbst raus, um Fische zu fangen», beschreibt sie ihre Arbeit. «Daneben denke ich aber auch über die sozialen Rahmenbedingungen nach.» So analysiert die Neufundländer Umweltforscherin gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern, Aktivistinnen und Interessierten die Ursachen der Plastikflut sowie ihre gesellschaftlichen Grundlagen. Ein wichtiger Aspekt ist für sie die Unterscheidung von Waste und Discard: Das englische «Waste» bedeutet Müll oder Abfall und bezeichnet Dinge, die nicht mehr nutzbar sind. «Discard» hingegen bezeichnet im Englischen eher Ausschuss von noch nutzbaren Dingen oder Teilen. Dr. Liboirons Discard Studies Blog ist eine interdisziplinäre Plattform für die Auseinandersetzung mit dem Wegwerfen, auf der sich Wissenschaftler, Aktivisten und Interessierte austauschen und informieren können. Es geht um den wissenschaftlichen Exkurs mit Definitionen, Theorien und Publikationen und um die Kommunikation des Themas an die Öffentlichkeit – ob als allgemeinverständliches Buch, als wissenschaftliche Publikation oder als Kunstprojekt.

Der grösste Anteil Plastikmüll im Meer stammt von Verpackungen und über 80 Prozent davon vom Land. Mikroplastik (Partikel unter 5 Millimeter) geraten in der Nahrungskette im Meer über Speisefische und andere Meerestiere wieder zurück auf unsere Teller. Ob und wie viele Plastikpartikel im Kabeljau und in anderen Speisefischen stecken, betrifft viele Neufundländer persönlich. Der Kabeljau-Fang ist ein Stück regionaler Identität. Genau dort setzt das Projekt CLEAR an: «Wir wollten herausfinden, wie stark der kanadische Kabeljau belastet ist», sagt Max Liboiron. Die Kabeljau-Fischerei ist in der Provinz Neufundland eine wichtige Tradition. Im Juli und August darf man fünf Fische pro Person und Tag fangen. Die Fischereibehörde (Department of Fisheries and Oceans) erlaubt diese sogenannte «food fishery» ohne Lizenz. Natürlich sind die Einwohner Neufundlands besorgt, dass auch ihr traditionsreichster Speisefisch mit Mikroplastik belastet sein könnte.

Umweltverschmutzung ist Kolonialismus

Max Liboiron bezeichnet die Umweltverschmutzung als kolonialistisch, weil es dabei um die Besitznahme von Land geht und um die Zuweisung von Funktionen und Nutzung: Ein Teil des Landes wird zur Mülldeponie erklärt und auch so benutzt. Diese Perspektive sei typisch für westliche Industrienationen, so die Umweltforscherin, und erstrecke sich auch auf die Wissenschaft, bei der ökonomische Perspektive und Wertigkeit ebenfalls eine Rolle spielten. Nach dieser Definition wäre ein Projekt, in dem Wissenschaftler Fische fangen, analysieren und den Rest des Fischs nicht weiter verwerten, eine kolonialistische Methode. Eine dekolonialistische Methode dagegen untersucht Fische, die bereits Teil der Nahrungskette sind. «In unserem Citizen-Science-Projekt suchen wir im Nahrungsnetz der Menschen nach Mikroplastik. Wir untersuchen das Nahrungsnetz direkt, also die zum Verzehr gefangene Fische. Die Teilnehmer fangen Fische, die sie essen oder verkaufen wollen, und untersuchen Magen und Verdauungstrakt auf Mikroplastik. Die Mikroplastikteilchen kann man mit blossem Auge oder einer Lesebrille sehen. Wir trainieren und schulen unsere Teilnehmer, wie sie den Fisch sezieren und wo im Magen und in den Eingeweiden sie nach Plastikpartikeln suchen können. Sie lernen, Plastik von echten Nahrungsbestandteilen und Schleim zu unterscheiden.» Gerade die festen, zum Teil scharfkantigen Stücke wie Garnelenpanzer oder Knochenstückchen sehen Plastik manchmal sehr ähnlich.

©Bojan Furst

«Für gute wissenschaftliche Ergebnisse ist die Vergleichbarkeit und Reproduzierbarkeit der Daten wichtig. Das stellen wir durch Schulungen und Unterweisung sicher. Zusätzlich haben wir methodische Vergleiche erprobt: Wir wissen nun, dass man in der Küche oder in der Garage genauso gute Ergebnisse bekommt wie im Labor und dass unsere einfachen Instrumente die gleichen Daten ergeben wie professionelle, viel teurere Instrumente. Wir benutzen einfaches Equipment, das sich jeder leisten kann, statt zum Beispiel teure Spektrometer.»

«Open Science»

Citizen Science ist eine Form der offenen Wissenschaft, bei der auch Laien mitarbeiten können. Max Liboiron entwickelt diese Idee der Partizipation noch weiter: «Der partizipative Ansatz, Dr. Liboiron nennt dies einen feministischen Ansatz, bedeutet, dass wir alle Nutzer sind und auf Augenhöhe miteinander kommunizieren. Wir – die Wissenschaftler – geben nicht nur Forschungsfragen vor, sondern entwickeln mit Nichtwissenschaftlern gemeinsam Fragestellungen und Forschungsprojekte. Jeder und jede kann Wissenschaft betreiben, wir müssen nur die Bedingungen dafür schaffen. Der Dialog auf Augenhöhe und das aktive Partizipieren sind für uns wichtig.»

Traditionelle Ansätze gehen davon aus, dass nur Wissenschaftler Wissenschaft betreiben können. So erreichen wichtige Themen unserer Zeit im wissenschaftlichen Diskurs die breite Öffentlichkeit nicht. «Die Forschung muss aus dem Elfenbeinturm der Universitäten und der Labors heraus und direkt an die Menschen heran. Nur so kann es gelingen, Probleme wie Plastikmüll im Meer anzugehen.»
Die globale Plastikflut, für die meisten Menschen eher abstrakt, wird für viele Neufundländer zu einem persönlichen Anliegen. «Ich erzähle im Radio oft über unsere Kabeljau-Projekte oder halte Vorträge ausserhalb der Universität. Die Leute kommen dann auf mich zu und wollen mitmachen. Im Kabeljau-Projekt übernehmen zehn Personen die bezahlte Laborarbeit; einige Studierende aus verschiedenen Fachbereichen, andere haben keine akademische Ausbildung. Die untersuchten Fischmägen und Eingeweide erhalten sie von über hundert Männern und Frauen, die die Fische gefangen haben. Auch wenn das Projekt einen feministischen Denkansatz hat, sind natürlich Menschen jedes Geschlechts zur Mitarbeit eingeladen. Die Arbeit wird aus den üblichen Quellen von Universitäten und Stiftungen finanziert. Auch die Citizen-Science-Mitarbeiter werden für ihre Arbeit entlohnt: «Niemand arbeitet ohne Bezahlung für mich», stellt Max Liboiron klar.

Fischnetze fischen

Der nächste Schritt im Kampf gegen den Plastikmüll muss zumindest in Neufundland die Reduzierung des Plastiks in der Fischereiindustrie sein. Immerhin ist die kommerzielle Fischerei die grösste Quelle für synthetischen Meeresmüll. Moderne Netze bestehen aus Kunststoffen wie Nylon. Wenn sie zerreißen und verloren gehen, schwimmen sie noch lange im Meer und sind über Jahrzehnte tödliche Fallen für Fische, Vögel und Meeressäuger. Netze aus traditionellem Material sind weniger problematisch, ihre Pflanzenfasern zerfallen mit der Zeit. Eine Idee ist, dass Fischer ihr traditionelles Fischereigeschirr (ohne moderne Kunststoffe) vorführen. Viele Fischer in Neufundland sind offen für solchen Fischerei-Tourismus. Noch besser wäre, wenn die Fischer auch zerrissene Netze wieder mit an Land bringen würden – ihre eigenen oder solche, die sie aus dem Meer gefischt haben. In einzelnen Ländern gibt es bereits Geld für die Ablieferung alter Netze an Land; bezahlt wird nach Gewicht. Eine andere Möglichkeit wäre ein Pfand für Netze: Bringt ein Fischer ein beschädigtes Netz zurück an Land, statt es ins Meer zu werfen, erhält er das Pfand zurück.
Regional besteht eine Fülle von Möglichkeiten, die Plastikverschmutzung im Meer einzudämmen, ob in Industrienationen oder in weniger industrialisierten Staaten.
Gleichzeitig muss es endlich eine globale Strategie gegen den Plastikmüll geben. «Die Lösungen liegen auf dem Tisch», sagt Max Liboiron: «Nun gilt es, sie umzusetzen. Die Staaten und die Staatengemeinschaft müssen – genau wie beim Klimaschutz – gemeinsame Lösungen finden und gemeinsam handeln.»