30 Jahre nach dem Super-GAU in Tschernobyl reisen noch immer Kinder aus der strahlenbelasteten Umgebung zur Erholung in die Schweiz. Was bringen ihnen die Ferien bei uns? Ein Augenschein in den Flumserbergen und ein Treffen in Wallisellen (ZH).

Strahlend schön ragen die Churfirsten und die Gipfel der Alviergruppe auf der gegenüberliegenden Talseite in den Himmel. Es ist sommerlich mild und die Luft ist rein. Vor dem Haus Margess auf der östlichen Flanke der Flumserberge posieren 34 Kinder mit noch verpackten Zahnbürsten für den Fotografen:

Mädchen und Jungen im Alter von neun bis zwölf Jahren. Es fällt auf, dass die meisten Jungen stoppelkurzes Haar tragen, vielleicht sehen sie sich deshalb so ähnlich. Oder weil viele von ihnen so dünn sind – wie der zehnjährige Jaroslav. Er kniet in der ersten Reihe. Schräg hinter ihm posiert die gleichaltrige Maria. Sie trägt ihr blondes Haar zu einem Rossschwanz gebunden, auf ihrem gestreiften T-Shirt steht «Awesome», was so viel wie grossartig, überwältigend heisst.

Maria und Jaroslav sind zum ersten Mal in der Schweiz, ja überhaupt im Ausland – wie alle Kinder hier im Ferienlager des Ostschweizer Vereins Tschernobyl Kinder. Sie verbringen drei Wochen Erholungsferien fernab der Ukraine, wo sie rund 200 Kilometer nordwestlich von Kiew auf dem Land leben. Ihr Dorf heisst Lipniki, es zähle etwa so viele Einwohner wie Flums, sagt die Kindergärtnerin Angelika Novitska, die ukrainische Hauptlagerleiterin. Läden gibt es dort fast keine, auch kein fliessendes Wasser in den Häusern. Die Region ist arm, auch an Menschen. Es gibt keine Perspektiven für arbeitende Frauen und Männer. 150 Kilometer im Osten von Lipniki liegt Tschernobyl. Vor 30 Jahren, am 26. April 1986, explodierte dort der Reaktor von Block 4. Seither gehört Lipniki zur sogenannten Zone 3 (siehe Kasten), der Boden ist kontaminiert. Nicht so schlimm wie in der Sperrzone, wo offiziell keine Menschen mehr leben dürfen.

Von älteren Kindern im Dorf wussten Maria und Jaroslav schon vor ihrer Ankunft in der Schweiz, was sie hier erwarten würde. Die Beschreibungen lauten etwa so: Man besucht einen grossen Zoo! Und ein Bergwerk! Und sogar ein Schloss! Dort gibt es Pommes Frites und Bratwurst zu essen! Und man geht in einen Kletterpark und schwingt durch die Luft! Und baden werdet ihr auch! Es hat riesige Berge! Und die Luft ist ganz sauber! Und es gibt viel zu essen, soo viel! Gutes Essen! Zuhause beschränkt sich die Nahrung auf das, was im eigenen verseuchten Boden wächst: Kartoffeln, Karotten, Kohl vor allem.

Das Immunsystem stärken, an Gewicht zulegen, die wichtigen Depots im Körper füllen: Das waren schon immer Hauptziele der Lager.

Sobald sie zehn Jahre alt sind, gehen die Kinder selbständig Pilze und Beeren sammeln. Die Beeren verkaufen sie auf dem Mark, die Pilze essen sie selber, sagt Angelika Novitska. Dass das, was sie zu sich nehmen, kontaminiert ist, wissen sie nicht so genau. Warum sollen ihnen die Mutter oder die Lehrerin das erklären – die Menschen in Zone 3 haben keine Wahl, sie müssen essen, was im eigenen Boden wächst.

Dass die Kinder in der Schweiz gesund und reichlich essen, ist für die Mitglieder des Vereins Tschernobyl Kinder einer der zentralen Ansprüche. Seit 2003 organisieren ehrenamtlich arbeitende Freunde und Bekannte rund um das Brüderpaar Luzi und Daniel Oberer jedes Jahr ein Sommerlager für rund 34 Kinder aus dem ukrainischen Distrikt Lugini. Angefangen hat die Geschichte der Erholungs-Lagerferien für Kinder, die mit den lebenswidrigen Folgen des Super-GAUs leben müssen, 1997 in Solothurn. Die damaligen Initianten waren Atomkraftkritiker, die sich auch humanitär engagieren wollten. Die Oberer-Brüder, die den Verein später in die Ostschweiz holten, halfen schon damals bei den Lagern mit. Heute ist Luzi Oberer nicht mehr im Vorstand, aber so etwas wie der Botschafter des Vereins. Der Zugbegleiter der RhB spricht fliessend Russisch. Aus 16 Gemeinden kommen die Kinder her, erzählt er: «Früher lebten dort rund 27 000 Menschen, heute sind es noch 17 000.»

Wirtschaftlich war diese Region nie gut dran, aber jetzt geht es den Leuten, die dort bleiben und dort geboren werden, immer schlechter. 30 Jahre Super-GAU – und das Leben in Zone 3 wird kein bisschen hoffnungsvoller, im Gegenteil. Es gebe kaum Arbeit, dadurch sei der Alkoholkonsum sehr hoch und das wiederum führe zu häuslicher Gewalt, weiss Luzi Oberer. «Viele Kinder haben Hunger. Und ihr Immunsystem ist schwach. Das hat auch mit den durch die Verstrahlung veränderten Genen zu tun. Die Kinder sind kontaminiert, die einen stärker, die anderen weniger.» Angelika Novitska sagt: «Bei 85 Prozent der Kinder werden gesundheitliche Probleme erkannt.» Viele Menschen in der Zone 3 hätten Schilddrüsenkrebs und Tumore. Das Immunsystem sei bei den meisten schlecht. Auch Atemwegerkrankungen, Magenprobleme und Infektionen kämen gehäuft vor. Oberer: «Was am stärksten wächst, sind die Friedhöfe.»

Der Trübbacher Verein initiiert und unterstützt auch Menschen und Projekte vor Ort, letztere vor allem in Kindergärten und Schulen. In der grössten Schule der Region, der von Lipniki, wo auch Maria und Jaroslav lernen, liessen die Schweizer neue, dichte Fenster einbauen. In der Vereinszeitschrift liest man: «Die Temperatur in den Schulzimmern konnte um zwei Grad erhöht werden. Dies ergibt im Winter eine Durchschnittstemperatur von 17 °C.»

Tschernobyl Kinder ist nicht der einzige Schweizer Verein, der Kinder aus den verseuchten Gebieten rund um die Sperrzone zu Erholungsferien in die Schweiz holt. Weitere gibt es beispielsweise in der Westschweiz und im zürcherischen Opfikon. Über Letzteren ist Nastassia Klimava vor zwölf Jahren als Achtjährige in eine Walliseller Gastfamilie gekommen. Der Zufall will es, dass sie dieser Tage wieder auf Besuch ist. Die Beziehung zwischen Arlette und Jürg Rutschmann und der heute 20-Jährigen aus Luninez in Weissrussland ist eng: Nastassia war bisher alle zwei Jahre in Wallisellen, dazwischen besuchten Rutschmanns sie und ihre Mutter im kontaminierten Süden Weissrusslands. Dort geht es ihnen zwar wirtschaftlich besser als in der Ukraine, aber auch sie sind zum Teil auf Selbstversorgung angewiesen. Nastassias Mutter leidet an schweren Herzproblemen, sie selber hat ein schwaches Immunsystem und ist immer wieder krank.

Zuletzt hatte sie eine Gürtelrose. «Für uns ist das normal», sagt Nastassia auf dem Sofa ihrer Schweizer Gastfamilie, «man hat uns schon als Kinder gesagt, dass wir viel krank sein werden.» Auch sie tankt auf, wenn sie in der Schweiz ist, und Rutschmanns schicken sie jedes Mal zur Zahnkontrolle. Das ist das Privileg jener Kinder, die in Gastfamilien untergebracht werden: Im besten Fall ergeben sich enge, die Jahre überdauernde Bindungen. Das muss aber nicht so sein: «Wir hatten zwei weitere Kinder aus Weissrussland, der Kontakt war aber nicht von Dauer», sagt Arlette Rutschmann, und: « Der in der Schweiz höhere Lebensstandard weckt natürlich auch Begehrlichkeiten bei den weissrussischen Bekannten, weshalb wir uns auch abgrenzen mussten. Zwischen Nastassia und uns war stets eine grosse, herzliche Zuneigung ohne Absichten, auch mit der Mutter. Das macht den Unterschied aus.» Kinder aus belasteten Situationen zu Erholungsferien in die Schweiz holen: Das finden Rutschmanns noch heute sinnvoll, «vorausgesetzt, die Kinder können die Beziehungen zu den Menschen, die sie aufgebaut haben, über die Ferienzeit hinaus weiterpflegen.»

Die Kinder spielen Uno im Gemeinschaftsraum.
Die Kinder spielen Uno im Gemeinschaftsraum. © Reto Schlatter
Nastassia besucht auch heute ihre damalige Gastfamilie noch regelmässig.
Nastassia besucht auch heute ihre damalige Gastfamilie noch regelmässig. © Reto Schlatter

Zwischen den Kindern aus der Ukraine und den Lagerleitern in den Flumserbergen scheint das nicht unbedingt der Fall zu sein – oder? «Doch», sagt eine der jungen Lagerleiterinnen: «Man findet sich in sozialen Netzwerken wieder und bleibt so in Kontakt.»

Vor dem Lagerhaus in den Flumserbergen hört man kurz vor Mittag zirpende Grillen und das Klak-Klok von Wanderern mit Stöcken, ansonsten ist es ruhig. Während ein Grossteil der Kinder im Gemeinschaftsraum Uno spielt, setzen sich Jaroslav und Maria an einen Tisch im Garten. Den Kindern gefällt das einfache Haus und dass sie jeweils ein Zimmer mit nur einem weiteren Kind teilen müssen. Jaroslav lebt zuhause allein mit der Mutter in einer Einzimmerwohnung, sie hat eine Augenerkrankung. Der Vater war lange arbeitslos und wurde vor einem Jahr als Reservist in die Armee eingezogen. Ihm selber gehe es gut, sagt der schmächtige Junge, er sei gesund. Doch Angelika, die ukrainische Lagerleiterin, weiss, dass er vieles nicht essen kann. Bis ins fünfte Lebensjahr habe er endlose Untersuchungen im Spital über sich ergehen lassen müssen. Woher die Magenprobleme kamen, fanden die Ärzte trotzdem nicht heraus. Ähnliches berichtet Maria, die so gesund aussieht. Ihre Nase blutet oft – doch auch bei ihr brachten verschiedene Abklärungen im Spital keine Erkenntnisse zu den Ursachen. «Eine Untersuchung mit dem Computertomografen können sich die Eltern nicht leisten», sagt die ukrainische Lagerleiterin.

Ausgelassen an der frischen Luft Fussball spielen: Das stärkt die Kinder psychisch und körperlich.
Ausgelassen an der frischen Luft Fussball spielen: Das stärkt die Kinder psychisch und körperlich. © Reto Schlatter

Maria erzählt, dass es in der Schule jedes Jahr am 26. April eine Art Gedenken an die Katastrophe von Tschernobyl gebe: «Die Lehrer erzählen uns, was passiert ist.» Sie fixiert ihre hellblau bemalten Fingernägel. Später wird Maria im sauberen Wasser des Hallenbads in den Flumserbergen plantschen, mit Flügeli an beiden Oberarmen. Zum Schwimmenlernen reicht die Zeit im Lager nicht. Aber das Zähneputzen wird den Kindern beigebracht. Eine Zahnärztin und eine Dentalhygienikerin aus der Region kommen extra ins Lagerhaus. Sperren die Kinder ihre Münder auf, sieht man bei einigen faule Zähne.

Die Gesundheit hat einen hohen Stellenwert im Lager: Neben den Zähnen werden auch die Augen untersucht. Wer kurzsichtig ist und eine Brille braucht, kriegt sie vom Optiker geschenkt. Auch das reichhaltige Essen dient vorab der Gesundheit: Das Immunsystem stärken, an Gewicht zulegen, die wichtigen Depots im Körper füllen: Das waren schon immer Hauptziele der Lager. Man rechnet damit, dass die Kinder danach mindestens ein halbes Jahr vom gesunden Essen zehren werden. Zuhause würden sie zunächst zwar hungern, sagt Oberer, «weil sich hier der Magen ausdehnt». Aber der positive Effekt überwiege.

Man könnte stänkern, so ein Lager sei, als ob man den Kindern den Speck durchs Maul ziehe. Die Lagerleiter widersprechen vehement. Luzi Oberer: «Was die Kinder hier auch an Zwischenmenschlichem erleben, nehmen sie mit nach Hause. Die Zeit, die Aufmerksamkeit, was wahr- und ernst genommen wird, die Ehrlichkeit: All das gibt ihnen Kraft für zuhause.» Die Kinder körperlich, aber auch psychisch zu stärken, ist ein zentrales Ziel des Vereins. Ein weiteres ist, ihnen ein Bild von der Welt mit auf den Weg zu geben, das sie ermuntert, sich in der Schule anzustrengen und eine Ausbildung anzustreben. Die wird sie dereinst weiterbringen, vielleicht auch weg aus Zone 3 in eine Umwelt, die positiver strahlt.

Zonen rund um Tschernobyl
In der Ukraine sind die kontaminierten Gebiete um den Reaktor in drei Zonen eingeteilt. Die innerste, die Chernobyl Exclusion Zone (auch «verbotene Zone» genannt), umfasst eine Fläche von rund 1210 km2. Daran schliesst die Zone 2 mit 6490 km2 an. Rund 50000 Menschen, die dort lebten, mussten in den Jahren 1991 und 1992 wegen der Strahlung ihr Zuhause verlassen. Die Zone 3 schliesslich ist rund 23620 km2 gross. Hier kann die Strahlendosis 1 Millisievert im Jahr übersteigen. Trotzdem leben noch über 600000 Menschen in dieser Zone.

Lesen Sie hier, wie sich die Natur in der Sperrzone ihr Gebiet zurück erobert.