Eine philosophische Auseinandersetzung zur Spaltung des gesellschaftlichen Kerns und zwei entgegengesetzte Statements zur Atomdebatte.

Der Kolumnist und Philosoph Markus Waldvogel zur Atomdebatte: «Der (Neo-)Liberalismus vertraut dem Markt wie einem Naturgesetz und sieht keinen Notstand, während die Vertreter einer nachhaltigen Politik die Grenzen des Wachstums sehen und an eine Befriedung des Energiehungers glauben.»

Wenn Sie neben der Kolumne von Waldvogel auch die unterschiedlichen Standpunkte zweier Journalisten aus verschiedenen Lagern interessieren, lesen Sie weiter unten deren Argumente dazu.

Die Spaltung des gesellschaftlichen Kerns

1973 erschien der erste Bericht des Club of Rome: «Die Grenzen des Wachstums». Im selben Jahr ordnete der Bundesrat wegen der Benzinknappheit («Erdölschock») drei autofreie Sonntage an. Am 25. November war es so weit: Statt Autos und Motorräder füllten Fussgänger die Schweizer Strassen.

1974 reichten Studenten des Technikums Burgdorf eine Initiative für zwölf autofreie Sonntage ein. Sie wurde trotz vieler Sympathien 1978 abgelehnt. Politbeobachter meinten, dass drei oder vier autofreie Sonntage eine Chance gehabt hätten.

Die Erfahrung autofreier Sonntage hatte experimentellen Charakter. Sie war in gewisser Weise radikal. Sie zeigte, dass einschneidende Massnahmen möglich sind, wenn der politische Wille da ist. Die älteren Schweizerinnen und Schweizer kannten das bereits: Die autofreien Sonntage erinnerten an die rationierten Lebensmittel während des Zweiten Weltkriegs. Die Lebensmittelkarten sollten damals verhindern, dass reiche Familien mit Grosseinkäufen die Läden leer räumten. Eigentlich geht es auch nicht an, dass einige Menschen heute hemmungslos Energie verbrauchen.

«Die Grenzen des Wachstums» machte eine wichtige Aussage: Es gibt objektive Schranken des Energieverbrauchs. Wenn sie systematisch überschritten werden, bezahlen künftige Generationen die Rechnung. Der Markt kann dieses Problem nicht lösen. Die Autofahrer hätten 1973 auch nicht freiwillig auf ihr liebstes Spielzeug verzichtet. Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen.

Die Frage ist nur, was heisst Not? Dazu eine erhellende Episode aus der Schweizer Umweltbewegung: Nachdem die Burgdorfer Initiative abgelehnt worden war, wollten einige Mitarbeiter des WWF Schweiz, dass die Umweltorganisation sich definitiv gegen die Atomkraft stelle. Das war bürgerlichen Politikern, die sich gerne auch als Umweltfreunde bezeichneten, ein Dorn im Auge. Sie machten Druck. Der WWF solle sich auf sein zentrales Anliegen beschränken: den Artenschutz. Ähnlich tönte es auch aus klassisch naturschützerischen Kreisen: Man solle sich nicht in politische Debatten einmischen, sondern beim Kerngeschäft bleiben.

Schliesslich schaffte eine repräsentative Umfrage Klarheit: 87 Prozent der WWF-Mitglieder standen hinter einer Anti-Atomkraft-Politik. Für sie befand sich die Gesellschaft durchaus in einem Notstand. Ähnlich sahen es übrigens auch Willy Brandt und Olof Palme in ihrem Bericht der Nord-Süd-Kommission «Die Zukunft sichern» aus dem Jahr 1980. Doch von einem Notstand wollte die politische Mehrheit in der Schweiz nichts wissen. Gesellschaftlichen Krisen könne man nicht mit einschränkenden Massnahmen begegnen.

Heute wird die Atomkraft trotz Tschernobyl und Fukushima und entgegen allen Ausstiegsszenarien im deutschsprachigen Europa wieder zum energiepolitischen Notnagel. Die einen sagen: Wer die Zukunft der Kerntechnologie bedroht, nimmt der Wirtschaft ihr Lebenselixier und schafft künstliche Stromengpässe; ausserdem helfe die Atomkraft im Kampf zum Erreichen der Klimaziele. Die anderen rufen nach «sauberer» Energie und warnen vor atomaren Gefahren, vor der Intransparenz des Uranhandels und der weltweit wenig nachhaltigen Stromproduktion.

Die Spaltung des gesellschaftlichen Kerns bleibt offensichtlich: Der (Neo-)Liberalismus vertraut dem Markt wie einem Naturgesetz und sieht keinen Notstand, während die Vertreter einer nachhaltigen Politik die Grenzen des Wachstums sehen und an eine Befriedung des Energiehungers glauben.

Zwischen diesen Positionen leben viele Menschen, die beides wollen, den Fünfer und das Weggli, nämlich einen hohen Lebensstandard mit möglichst wenig (Markt-)Einschränkungen und ein durch grünen Ablass (Kompensationen) besänftigtes schlechtes Gewissen.

Zur Freiheit des Einzelnen gehört das Wissen, dass man es auch einmal anders machen könnte – das mit den Ferien, dem Fleisch oder der Mobilität. Zur Freiheit einer Regierung gehört der Mut, auch einmal unpopuläre Entscheidungen zu fällen, statt dauernd auf parlamentarische Mehrheiten zu schielen. Regierungen führen besser, wenn sie das Abgewähltwerden wegen politischer Inhalte bewusst in Kauf nehmen – und wenn sie Experimente wagen. Wie wär’s mit einer Aktion «Das GA für 2000 Franken, befristet auf ein Jahr»? Oder mit «flugfreien Pfingsten?» Oder einer verbindlichen Energieverbrauchskarte pro Kopf?

Übrigens: Die autofreie Altstadt von Schaffhausen konnte vor vierzig Jahren nur verwirklicht werden, weil ein Pilotversuch diese wunderbare Erfahrung ermöglichte. Der konservative politische Slogan «Keine Experimente!» ist in einer zerrissenen, modernen Gesellschaft fehl am Platz. Dies auch noch 43 Jahre nach den autofreien Sonntagen.

Standpunkte

Die Omertà – das ungeschriebene Gesetz des Schweigens

Von Susan Boos, Journalistin, wohnhaft in St. Gallen

Da war die Besetzung von Kaiseraugst und die Atomkatastrophe von Tschernobyl. Doch für mich war damals alles weit weg und hatte nichts mit mir zu tun.
Dann wollte es der Zufall, dass ich Anfang der 1990er Jahre in die Ukraine reiste. Ich lernte Leute kennen, die 1986 in Prypjat gelebt hatten. Prypjat, das war die Stadt gleich neben dem geborstenen Reaktor von Tschernobyl. Die Menschen, die dort lebten, hatten aufrichtig an die Nuklearenergie geglaubt, weil sie für Fortschritt und Wohlstand stand.
Und dann passierte das Unvorstellbare, der Reaktor explodierte. Binnen weniger Stunden mussten die Leute Prypjat verlassen. Alles, was sie geliebt hatten, war für immer verschwunden.
Damals wollte ich genauer wissen, was eine solche Katastrophe mit einer Gesellschaft anstellt, und beschloss, darüber ein Buch zu schreiben. Ich redete mit Evakuierten, Aufräumarbeitern, WissenschaftlerInnen und auch den alten Menschen, die die hochverseuchte Zone nicht verlassen wollten.
Im Westen waren sich die ExpertInnen einig: Die Sowjets, diese Pfuscher, waren schuld, bei uns würde ein solcher Unfall nie passieren.
Tatsache war: Es gab in der Sowjetunion Leute, die gewarnt hatten, dass der Tschernobyl-Reaktor ein Konstruktionsproblem aufwies. Doch man wollte es nicht hören.
Dann kam der März 2011. Drei Reaktoren in Fukushima schmolzen durch. Wieder ging ich hin, um mit den Betroffenen zu reden. Erneut verloren Tausende über Nacht ihr gewohntes Leben – Haus, Hof, Kühe, Katzen, Garten.
Die Experten sagten diesmal, man habe vorher gewusst, dass Fukushima Daiichi für den Tsunami nicht gerüstet war. Selbst die oberste internationale Atombehörde habe das angemahnt. Doch es drang nichts nach draussen. Keiner hat laut gesagt: Liebe Leute von Tepco, so geht das nicht!
Es gibt weltweit viele Atomkraftwerke, die technisch nicht so ausgerüstet sind, wie sie sein sollten. Die Branche weiss es, die Branche schweigt.
Solange die Omertà gilt, tut man gut daran, davon auszugehen, dass kein AKW sicher ist – wirklich sicher ist aber eins: Ein stillgelegtes AKW.

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«Beherrschtes Entsetzen – das Leben in der Ukraine zehn Jahre nach Tschernobyl» (1996)
«Strahlende Schweiz. Handbuch zur Atomwirtschaft» (1999)
«Fukushima lässt grüssen. Die Folgen eines Super-GAUs» (2012)

Ich bin ein Atomfreund aus Umweltgründen

Von Alex Baur (55), Journalist, wohnhaft in Zürich

Für einen, der in den 1970er Jahren das Gymnasium in Aarau besuchte, war die Teilnahme an den Demos im nahen Gösgen schon fast ein Pflichtfach. So kam auch ich via Anti-AKW-Bewegung auf das Thema. Das war insofern speziell, als mein Stiefvater Kernphysiker war. Ich musste mich also sehr gut informieren, um gegen ihn anzutreten. Und es gelang mir sogar, ernsthafte Zweifel in ihm zu wecken.
Nur glaubte ich am Ende selber nicht mehr an meine Argumente. Die Wende kam 1986 mit Tschernobyl. Ein Atomausstieg erschien erstmals real greifbar. Real wurden damit aber auch die Konsequenzen. Zum einen sah ich, dass der Super-GAU zwar schlimm, aber nicht so verheerend wie befürchtet war. Zum andern wurde mir klar, dass die einzige reale Alternative fossile Brennstoffe sind. Alles andere ist gefährliches Wunschdenken. Sonne und Wind scheitern an der Unzuverlässigkeit und am enormen Verschleiss an Ressourcen, Bio-Treibstoffe sind schlicht ein Umweltverbrechen.
Ich bin ein Atomfreund aus Umweltgründen. Ich habe beruflich einige Jahre in Entwicklungsländern verbracht. Und ich habe gelernt: Die meisten Menschen leben nicht wie wir im Überfluss, sie wollen Wachstum – und sie haben ein Recht darauf. Energie ist ein Schlüssel-Faktor. Atomkraft (Bandenergie) kombiniert mit Wasserkraft (Regelstrom), also das Schweizer Modell, ist schlichtweg genial. Wobei klar ist: Die problemlose Energiequelle gibt es nicht, es ist stets eine Frage des kleineren Übels.
Ich habe mehrere Atomkraftwerke besucht, darunter auch die Ruinen von Fukushima (das evakuierte Sperrgebiet hatte ich zuvor auf eigene Faust erkundet, illegalerweise). Ich habe meine Position stets kritisch hinterfragt, doch ich kam immer wieder zum selben Schluss: Es ist falsch, die Atomenergie zu bekämpfen. Vielmehr sollten wir uns für neue, inhärent sichere Reaktoren einsetzen. Mit AKW der vierten Generation, also der Brütertechnologie, die in Russland schon heute (und bald auch in China) Strom liefert, werden wir auch das Problem der lang strahlenden Abfälle aus der Welt schaffen.