Stromhändler Urs Martin Springer von der BKW erzählt, wie und welcher Strom in unsere Steckdose kommt.

Das eigentliche Ziel meiner Arbeit ist, dass niemand sie bemerkt. Die meisten meiner Freunde wissen nicht einmal, dass es meinen Job überhaupt gibt. Sie sehen ein Kraftwerk und von dort fliesst der Strom in ihre Steckdose. Dass das nicht so einfach ist, sehe ich jeden Morgen, wenn ich gegen acht in mein Büro bei der BKW komme.

Ich bin Stromhändler bei der BKW. Unser Berner Energiekonzern produziert pro Jahr rund 10 Terawattstunden Strom – meine Abteilung aber kauft und verkauft jedes Jahr zusammengenommen mehr als das Zehnfache. Mein ganzer Tag dreht sich um den Handel, viel aber auch um die Unterstützung meines Teams: IT-Sitzungen und Ablaufpläne für neue Projekte.

Warum es Stromhandel überhaupt braucht? Vor allem wegen der Marktöffnung. In der alten Zeit vor der Liberalisierung des Strommarkts hatten Stromanbieter wie die BKW eigene Versorgungsgebiete für ihre Kraftwerke: Man errechnete den voraussichtlichen Verbrauch der Kunden, und man sagte den Kunden schon einmal, sie sollten doch bitte am frühen Nachmittag, wenn typischerweise der Verbrauch am höchsten ist und das Kraftwerk gar nicht so viel liefern konnte, nicht waschen. Oder man baute grössere Kraftwerke als Reserve, die man bei Bedarf hochfahren konnte. Es hät, solang s hät – das galt damals. Dann ermöglichte man es den Kunden, Strom auch bei anderen Anbietern zu beziehen. Dazu kommt heute, dass Ökostrom aus erneuerbaren Energien, also Sonne und Wind, wetterabhängig ist. Es gibt also mehr Schwankungen im Netz – eine Lücke hier, einen Überschuss dort – und damit mehr Bedarf an Händlern. Heute ersetzt der Markt die Reserve. Er schliesst langfristige und kurzfristige Lücken und vor allem minimiert er  das Risiko, dass die BKW Verluste macht oder dass es auf einmal an Strom fehlt. Wir kaufen und verkaufen rund um die Uhr.

Auf meinem linken Bildschirm erledige ich Mails und so, auf dem rechten sehe ich, was meine Händler machen. Da sehe ich zwölf Charts in drei Reihen, rote, grüne, und schwarze Kurven auf weissem Grund. Es sieht aus wie ein Börsenbarometer und zeigt die aktuellen Stromkäufe und -verkäufe an Börsen in Frankreich, Deutschland und Italien. Darunter sieht man noch die CO2-Preise, die wichtig sind für unsere Kraftwerke: Die müssen das dazukaufen; zwar nicht die Wasser- oder Atomkraftwerke, aber zum Beispiel unser deutsches Kohlekraftwerk. Je höher der Graph, desto höher der Preis. Auf der waagrechten Achse verläuft die Tageszeit. Oha, haben wir da eben einen Verlust gemacht? Der rote Pfeil hier bedeutet einen Verkauf von uns, der grüne Pfeil einen Kauf von uns. Blöderweise liegt jetzt der grüne Pfeil über dem roten. Wir haben also teurer gekauft, als wir verkauft haben. Dabei gilt eigentlich «Sell High, Buy Low». Sekunde, ich muss kurz nachschauen, wie viel wir verkauft haben. Ah, keine Riesenmenge. Noch mal gutgegangen. Ausserdem geht der Trend nach unten, der Strompreis ist danach weiter gefallen. Da haben wir vielleicht einfach rechtzeitig abgestossen.

Die BKW ist Energiehersteller und Energieanbieter, speist also ins Stromnetz ein und liefert anderswo aus. Das schafft Unmengen von Verpflichtungen: Bestimmte Strommengen müssen unbedingt an einem vereinbarten Ort zu einer bestimmten Zeit bereitstehen – für einen festgelegten Preis. Gleichzeitig ist die Welt ja in Bewegung. Mal wird hier mehr, dort weniger gebraucht. Strom ist aber vergänglich, man kann ihn nicht richtig speichern, also muss man ihn im richtigen Moment dort haben, wo er gebraucht wird. Überschuss hier, Nachfrage dort – dazwischen die Kabel. Das führt zum Handel. Macht den Handel aber auch kompliziert, weil man immer schauen muss, ob Platz im Netz ist für Lieferungen. Daher wird im Strommarkt auch noch manuell gehandelt.

Morgens prüfen wir die Liste aller Geschäfte, was rein- und rausgeht, wie viel wir dafür zahlen und einnehmen werden. Das ist unser Masterplan.  Dann kommt die Realität, wirft ständig alles über den Kopf. Und so geht der Handel los. Risiken minimieren, Verpflichtungen erfüllen. Wenn man Energie braucht, kauft man, wenn man zu viel hat, versucht man zu verkaufen – «Positionen glätten» heisst das.

Wir beliefern neben Haushalten auch grosse Firmen, die viel Strom brauchen, und andere Energieanbieter. Die langfristigen Verträge regeln wir über den sogenannten Terminmarkt, in dem man künftige Lieferpreise vereinbaren kann. Bei sehr grossen Anfragen führen wir auch schon mal persönlich Verhandlungen, zum Beispiel mit einer grossen Alufirma, die viel Strom braucht und sich gegen Preisschwankungen absichern will. Die Tagesunterschiede glättet unser Team am Spotmarkt, die kurzfristigen Abweichungen vom Tagesplan versuchen die Trader im Intraday-Team auszubügeln. Einige Händler arbeiten hier im Schichtbetrieb. Sechs Tische in langen Reihen im Grossraumbüro, je sechs Bildschirme drauf, wie im Kino. Eine Zockerbude ist das aber nicht, meine Händlerinnen und Händler kriegen keine Gewinnbeteiligungen und sie haben Limiten, sie können keine Milliarden verzocken. Ein paar Millionen pro Mausklick sind es aber schon. Zum Mittagessen bleiben mir kaum 30 Minuten. Zwischen Sitzungen kontrolliere ich auf meinem Bildschirm, was im Markt läuft. Im äussersten Notfall muss ich schon mal rausrennen und stopp schreien. Dann wird der Handel komplett eingestellt. Wenn die Welt Kopf steht. Bei Fukushima, wo niemand wusste, ob am nächsten Tag alle Kernkraftwerke weltweit abgeschaltet werden würden und überall Strom fehlen würde. Oder als der Franken plötzlich keine Kursbindung mehr hatte. Das war auch ein Strompreisschock.

Weil die Schweiz und auch wir von der BKW einen Grossteil unserer Energie aus Wasserkraft beziehen und das erst geht, wenn der Schnee schmilzt, sind wir im Sommer eher Verkäufer, im Winter eher Käufer von Strom aus anderen Ländern. Diese Schwankungen sind langfristig vorhersehbar, dafür schliessen wir langfristige Bezugsvereinbarungen ab, beispielsweise mit französischen Kernkraftwerken oder deutschen Windkraftwerken. Aber es gibt auch kurzfristige Einflüsse: Plötzlich kündigt Russland eine neue Pipeline an. Langfristiger Strompreis runter. Oder Rebellen in Libyen stellen ihre Gaslieferungen nach Italien ein. Das erhöht dort schlagartig den Energiepreis und, weil wir mit Italien handeln, dann auch den Preis bei uns, weil die Nachfrage steigt. Oder nehmen wir an, in Deutschland ist Windstille. Dann fehlt plötzlich Windenergie und schwups schnellt der Strompreis in die Höhe. Also geben wir unserem Wasserkraftwerk Oberhasli Bescheid, das ist unser Kronjuwel. Innert zehn Minuten können die das Wasser fliessen lassen und wir Händler verkaufen diesen Strom für gutes Geld weiter.

Manchmal weht der Wind auch zu sehr, dann gibt es einen solchen Stromüberschuss, dass es sogar zu negativen Strompreisen kommt. Da kriegen wir Strom und Geld dazu – einfach damit die Leitungen sich leeren. Mit dieser Energie pumpen wir das Wasser in Oberhasli wieder den Berg hoch. Wie der Seespiegel sich hebt und senkt, hängt also vom europäischen Strommarkt ab. Mein Job, das ist Ökonomie in echt. Ich liebe das. Auch wenn es niemand mitbekommt.