Essen ist weit mehr als sich ernähren. Essen ist vor allem ein sozialer Kitt. Beginnt dieser zu bröckeln, fallen Familien, Dörfer, ja ganze Länder auseinander. Sozialarbeiter, Diplomaten und Entwicklungshelfer erkennen: Friede und sozialer Aufbau gehen durch den Magen. Initiativen weltweit machen sich diese Erkenntnis zunutze; darunter auch die Cuisine sans frontières aus der Schweiz.

David Höner ist kein normaler Koch, sondern einer mit einer Mission: Er will mit dem Kochlöffel die Welt verändern. Nachdem er lange Jahre als Beizer, Tangotänzer, Choreograf, Journalist und Schriftsteller durch die Welt gezogen war, gründete er 2005 die Cuisine sans frontières (CSF). Seither hat seine Organisation eine Handvoll Restaurants in aller Welt eröffnet: In San José, Kolumbien, mitten im Territorium von FARC-Rebellen und Paramilitärs, wo die Dorfbewohner nun wieder zusammen Karten spielen, sich mit IKRK- und Oxfam-Entwicklungshelfern austauschen und tagsüber für die Schulkinder kochen. In Orwo, im Nord­westen Kenias, wo die Stammesführer der traditionell verfeindeten Pokot und Turkana sich bereits mehrmals gemeinsam an Höners Ziegeneintopf erfreuten (auch wenn es immer wieder zu Viehdiebstählen und Schiessereien kommt). Oder in einer Favela im brasilianischen Salvador da Bahia, wo mit dem Restaurant ein lange Zeit fehlender Raum für kulturelle Veranstaltungen entstand. «Wir wollen an ungastlichen Orten Gastgeber sein», sagt Höner während unseres Gesprächs.

Begegnung im gastronomischen Niemandsland

Ich hatte David Höner gebeten, für unser Treffen ein Restaurant vorzuschlagen, das seinem Ideal einer Beiz im Sinne der CSF so nahe kommt wie möglich. Wir treffen uns im «Transit», einem kleinen Lokal in einer Baracke im Niemandsland von Zürich Altstetten, direkt an der Aargauerstrasse, vis-à-vis des Lastwagen-Umschlagplatzes der Zürcher Markthalle, eingepfercht zwischen den Flüchtlingswohncontainern der Asylorganisation Zürich (AOZ) und dem Swisscom-Rechenzentrum. Hier würde niemand eine Beiz erwarten. Ich öffne die Tür, es ist angenehm warm, Kerzen verbreiten ein heimeliges Licht, in der Ecke steht eine Jukebox, an einer Wand hängen Postkarten, das Mobiliar ist bunt zusammengewürfelt. Alle Tische sind besetzt, der Raum ist erfüllt von einer Polyfonie aus Fetzen angeregter Gespräche und schepperndem Geschirr. Lange Bärte in Wollpullovern sitzen neben glattrasierten Backen in weissen Hemden. Bedient werden sie von Kellnern aus Eritrea. «Ein bisschen wie früher die Genossenschaftsbeizen», sagt Höner, «nicht so durch­gestylt und geschmäcklerisch.» Ihm gefällt, dass hier auch Konzerte stattfinden, Asylbewerber arbeiten und die Preise vernünftig sind, auch wenn mit frischen Produkten gekocht wird. Riz Casimir oder Penne mit Tomatensauce stehen an diesem Mittag auf dem Menu, à la carte gibt’s nicht. Höner, selbst ein Gourmet und Bonvivant, ist nicht begeistert, nimmt es aber gelassen hin.

«Die Gastgebertradition gibt es in jeder Kultur», erklärt er seine Mission, «egal ob im oberen Amazonas, in muslimischen Ländern oder bei uns. Wenn die zerfällt, beginnt der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft zu bröckeln. Die Relevanz der Gastronomie fällt einem erst auf, wenn sie plötzlich nicht mehr da ist.»

Höner hatte dieses Schlüsselerlebnis vor etwas mehr als zehn Jahren, als er sich als Kriegsreporter in Kolumbien versuchte. Seit vielen Jahren lebt er mit seiner Frau in Ecuador und beschränkt seine Besuche in der Schweiz auf wenige Wochen im Jahr. In dem von FARC-Rebellen, Paramilitärs und Regierungstruppen umkämpften Gebiet gab es nirgends mehr eine Beiz — keine Suppenküche, keine Teestube, keinen Ort mehr, wo man sich wärmen, sich austauschen und Hoffnung hätte tanken können. Die Menschen in den Dörfern blieben in ihrer Angst allein zu Hause.

«Die Gastgebertradition gibt es in jeder Kultur. Egal ob im oberen Amazonas, in muslimischen Ländern oder bei uns.»«Aber was ist das Erste, was es in Kriegsgebieten wieder braucht — noch bevor Strassenund Häuser repariert und Wasserleitungen geflickt werden?», fragt Höner. «Vertrauen! Vertrauen in die Menschen und in das, was um dich herum passiert. Vertrauen auch in diejenigen, die von aussen kommen und beim Aufbau helfen. Vertrauen entsteht aber nur über Kommunikation, und die findet vor allem beim gemeinsamen Essen und Trinken statt. Essen bedeutet, etwas miteinander zu teilen. Wer zusammen eine Suppe isst, macht viel mehr als das. Er beginnt einen Dialog.» Und welche Rolle spielt dabei der Gastgeber? «Eine sehr wichtige. Persönlich für jemanden zu kochen, ist bereits etwas sehr Intimes. Es braucht deshalb den neutralen Gastgeber, der einen geschützten Rahmen schafft, in dem man sich ungestört begegnen kann.» Höner macht sich an seinem Blattsalat zu schaffen, ich tauche den Löffel in meine Kürbissuppe. Er sagt: «Man darf nicht vergessen: Die Wiege der Zivilisation liegt in der Gastronomie. En Guete.»

Ich koche, also bin ich

Was Höner als nettes Bonmot in unser Tischgespräch einwirft, wissen die Anthropologen schon lange: Essen, Kochen und der Umgang mit Lebensmitteln, all das hat für den Menschen eine Bedeutung, die weit über die Ernährung hinausreicht. Schon der französische «Gastrosoph» Jean Anthelme Brillat-Savarin stellte Anfang des 19. Jahrhunderts in seiner «Physiologie des Geschmacks» die These auf, dass Kochen der Schlüssel zu unserer Zivilisa­tion sei. Der Ethnologe Claude Lévy-Strauss bestätigte dies 1964 in seinem Werk «Das Rohe und das Gekochte» — für viele Kulturen liege der Unterschied zwischen Mensch und Tier in der symbolischen Handlung des Kochens. Noch einen Schritt weiter ging vor einigen Jahren der Anthropologe und Primatenforscher Richard Wrangham von der Universität Harvard. Er vertritt in seinem Buch «Feuer fangen» die These, dass es nicht der Gebrauch von Werkzeugen, der Verzehr von Fleisch oder die Sprache gewesen seien, die während unserer Evolution die Abzweigung vom Affen einleiteten, sondern das Kochen. Seine Argumentation: Das Essen gekochter Lebensmittel benötigt viel weniger Zeit und Energie, als rohe Nahrung zu kauen und zu verdauen. Als unser Verdauungstrakt als Folge davon schrumpfte, wurde Energie frei für das Wachstum unseres Gehirns. Das erweiterte Gehirn habe zusammen mit der eingesparten Zeit und Energie die Grundlage geschaffen, damit der Mensch fortan eine Kultur entwickeln konnte, sagt Wrangham. Damit stünde das Kochen am Anfang unserer Menschwerdung und wäre nicht, wie bisher angenommen, eine Folge davon. «Die Notwendigkeit zu essen und die Freude am guten Geschmack sind der kleinste gemeinsame Nenner der Menschheit.»

Wranghams Hypothese ist unter Anthro­pologen bis heute umstritten, doch unabhängig davon hatte das Kochen weitgehende Konsequenzen für unsere Sozialisation. Denn als wir noch den ganzen Tag mit der Suche nach roher Nahrung beschäftigt waren, assen wir wahrscheinlich meist unterwegs und allein. Erst mit der Entdeckung des Feuers und des Kochens versammelten sich die Menschen zum Essen, teilten, was sie zuvor gepflückt und erbeutet hatten, erzählten sich Geschichten, übten sich in Selbstbeherrschung und Arbeitsteilung. Es ist diese spezielle Konstellation, die David Höner für seine Arbeit nutzt.

Durch Geselligkeit zur nachhaltigen Esskultur

Die Notwendigkeit zu essen und die Freude am guten Geschmack sind ohne Zweifel etwas Universelles, sozusagen der kleinste gemein­same Nenner der Menschheit. Doch obschon seit einigen Jahren ein regelrechter Kult ums Essen veranstaltet wird — von Molekular­küche bis Makrobiotik, von Fair Food bis Slowfood, bleibt ein Aspekt weitgehend unbeachtet: die soziale Komponente, das Verbindende, Rituelle und Dialogische des Essens. Dass ein veganer Vollkornriegel, allein vor dem Computer verschlungen, nicht dieselben psychologischen und sozialen Prozesse in Gang bringt wie eine in der Gruppe geschlachtete und gegrillte Sau, liegt nahe.

Slowfood ist diesbezüglich ein Vorreiter. Das Netzwerk, 1989 von Carlo Petrini gegründet, hat mittlerweile Hunderttausende Anhänger in über 150 Ländern. Petrini gründete Slowfood, nachdem er sich über die geplante Eröffnung eines McDonald’s an der Piazza di Spagna in Rom geärgert hatte. Abgesehen davon, dass Slowfood Restaurants auszeichnet, die mit lokalen, umweltschonend hergestellten Produkten kochen, tritt die Organisation vehement für eine neue (alte) Esskultur ein. In einem Programm aus dem Jahr 2012 wird das «Convivium», das Zusammensein bei Tisch, als zentrale Organisationsform der Bewegung beschrieben. Die Geselligkeit ist das Gegenmodell zum Utilitarismus und zur Entwürdigung des Menschen in der heutigen Leistungsgesellschaft. Das Convivium verweist auf das Zusammensein bei Tisch — «nicht nur um das Brot zu teilen, sondern um den Dialog, das Nachdenken und den Genuss an der Gemeinschaftlichkeit zu fördern. Das ist vielleicht der edelste Aspekt, den die Esskultur über die Zeit hervorgebracht hat.»

In der Küche des Zentrums «Calabash» in Orwa, einem Grenzgebiet zwischen Südsudan und Kenia, hat Cuisine sans frontières vor drei Jahren einen interkulturellen Treffpunkt aufgebaut. © Anna Hofmann

Mit Rezepten Grenzen durchbrechen

Mittlerweile hat nicht nur Cuisine sans frontières das Potenzial des Conviviums erkannt. Die englische NGO International Alert hat letztes Jahr einen interessanten Versuch unternommen: Die armenisch-türkische Grenze ist seit 1993 geschlossen. Die grenznahen Dörfer unterhalten keine Kontakte mehr. «Das befördert gegenseitige Feindbilder», erzählt Gulru Nabieva, Politologin und Leiterin des Programms «Recipes for Peace». Viele Familien haben jedoch familiäre Wurzeln auf der anderen Seite. Die Dörfer teilen kulturelle Gemeinsamkeiten — speziell in der Küche, die geprägt ist von einer gemeinsamen Flora und Fauna, vom Einsatz derselben Gewürze und ähnlichen Zubereitungsarten.

Nabieva hat deshalb mit ihrem Team beidseits der Grenze Rezepte gesammelt und diese miteinander verglichen. Schliesslich hat sie die Frauen zum gemeinsamen Kochen und Essen zusammengebracht. «Über die Rezepte hatten wir ein Mittel, um die Gemeinsamkeiten anstelle der Verschiedenheiten hervorzuheben. Das verbindet.» Die Küche als Rahmen, um auch sensible politische Themen wie den türkischen Genozid in Armenien anzusprechen? «Ja», sagt Nabieva. «Die Stimmung in der Küche ist viel entspannter und friedlicher als anderswo. Manche Frauen entwickeln während des Kochens sogar einen starken gemeinsamen Wunsch, alte Vorurteile hinter sich zu lassen.»

Alert International will das Programm nun auf andere Gebiete ausweiten und zudem Wege finden, damit auch Männer Teil des Prozesses werden. Denn Nabieva weiss: In patriarchalischen Gesellschaften können die Frauen in der Küche noch lange versöhnlich Suppen kochen. Solange die Männer sich nicht genauso annähern, wird die Überbrückung von Grenzen nicht nachhaltig sein.

Alert International will aber nicht nur in Konfliktregionen neue Kontakte schaffen, sondern auch zu Hause in Grossbritannien. Dafür hat die Organisation die «Conflict Kitchen» in London initiiert, ein temporäres Pop-up-Restaurant für interkulturelle Begegnungen. Köche aus Syrien, Kolumbien, Jordanien, Nepal, Armenien und der Türkei bereiten dort nicht nur Spezialitäten ihrer Region zu, sondern informieren gleichzeitig über ihre Heimat und deren Konflikte. Dabei liess sich die NGO von der «Conflict Kitchen» in Pittsburgh inspirieren, einem von Künstlern gegründeten Pop-up-Restaurant, das konsequent nur Länder zum Kochen einlädt, mit denen die USA im Konflikt stehen. Afghanistan war auch schon zu Gast — und der Iran.

Mit einem iranischen Wrap zu mehr Verständnis für andere Kulturen: Das Pop-up-Restaurant «Conflict Kitchen» in Pittsburgh macht’s vor. © Conflict Kitchen

Gastrodiplomatie mit Clintons Kochkorps

Johanna Mendelson-Forman, Politolo­giedozentin an der American University in Washington, erklärt die Kraft der Geschmäcker und Gerüche für die Friedensarbeit wie folgt: «Durch die Sinnlichkeit, die Intimität und die Emotionen, die Menschen mit dem Essen verbinden, können sie auf einer emotionalen Ebene angesprochen werden.» Die Küche sei oft das Erste, was Menschen von einer anderen Kultur kennenlernten. «Und sie trauen den Küchenchefs mehr als den Politikern.» Das gehe ihr übrigens genauso, wenn sie an Donald Trump denke, fügt sie lachend an. Einer ihrer Kollegen hat kürzlich 140 Amerikaner und Amerikanerinnen befragt, ob das Essen ihr Bild und ihre Meinung von einem bestimmten Land verändert habe. Über die Hälfte bejahten dies.

Mendelson-Forman nutzt diese Erkenntnis auch für ihre Lehre: Ihre Vorlesung heisst «Conflict Cuisine». In regelmässigen Abständen besucht sie mit Studierenden vietnamesische, äthiopische, chinesische und iranische Restaurants, um sie in einen Dialog mit den Köchen zu bringen. Dabei lernen sie nicht nur etwas über die Esskultur, sondern auch über die Konflikte und die politische Situation in den jeweiligen Ländern. «Die meisten Studierenden stammen aus Mittelklassefamilien. Für die ist das komplett neu, Geschichte auch einmal von einem Betroffenen zu hören, statt sie in einem Buch nach­zulesen», erzählt die Politologin.

Dass Politik auch durch den Magen geht, weiss selbst Hillary Clinton. Sie hat 2012 das American Chef Corps initiiert, dem die 80 besten amerikanischen Köche angehören. Ihre Aufgabe: um die Welt fliegen und kochen, um das Bild Amerikas auf kulinarischem Weg aufzu­bessern und Vertrauen aufzubauen. «Gastro­diplomacy» heisst das in Diplomatenkreisen.

Und wie Mendelson-Forman weiss, ist das Interesse in der Politik als Mittel der «Soft Power» so gross wie nie zuvor.

Toleranz dank Thaifood?

Doch reicht ein butterzart geschmortes Lamm oder ein exzellent gewürzter Heilbutt wirklich, um einen Konflikt beizulegen? Genügt es, öfter einmal im Thai-Restaurant um die Ecke zu essen, um im interkulturellen Dialog mitreden zu können? Das ist Carole Counihan zu einfach. Die Anthropologin beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit Esskultur und Kochen und hat eines der Standardwerke der Food Anthropology geschrieben. «Sehr schnell werden künstliche Begegnungen zu interkulturellen Dialogen verbrämt», sagt sie. «Wir Amerikaner lieben zwar mexikanisches Essen, aber lieben wir auch die Mexikaner?» Ihr kommen auf Anhieb etliche Beispiele in den Sinn, wo unterschiedliche Küchen zu Streit statt zu Annäherung geführt hätten. So zum Beispiel in Ita­lien, als sich in den Städten Hausbewohner an den Gerüchen ihrer neuen türkischen und arabischen Nachbarn störten, bis dies zum Politi­kum wurde. In Luccas Zentrum verbot man die Er­öffnung von neuen Kebabständen. Man könnte als Beispiel auch den seit Jahren schwelenden «Falafel-Krieg» anführen: Palästinenser und Libanesen werfen Israel vor, ihre Küche zu vereinnahmen und zu kommerzialisieren. «Kochen und Essen allein machen die Welt noch nicht zu einem friedlicheren Ort», glaubt Counihan. «Es kommt stark auf die Umstände an.»

«Wir Amerikaner lieben zwar mexikanisches Essen, aber lieben wir auch die Mexikaner?Zum Abschluss unseres Essens bestellt David Höner einen Espresso. Dann erzählt er von seinem neusten Projekt, einem Kochschiff auf dem Rio Napo in Ecuador. Damit will er entlang des Flusses von Dorf zu Dorf schippern und indigene Gruppen, Holzfäller, Mitarbeiter von Erdölgesellschaften, zugezogene Siedler und Touristen an einen gemeinsamen Tisch bringen und versöhnen. Aktuell ist das Verhältnis alles andere als rosig, zu verschieden sind die Interessen und der Streit droht zu eskalieren: ein klassischer Fall für eine Frieden stiftende Beiz der CSF. In Puerto Francisco de Orellana, der am schnellsten wachsenden Stadt am Rio Napo, soll auch eine Kochschule entstehen. Sie wird das Personal für das Schiff ausbilden und den regionalen Tourismus mit Fachkräften versorgen.

Nun muss Höner aber los, sonst kommt er zu spät zu seinem nächsten Termin. Er verabschiedet sich mit einem kräftigen Händedruck, greift seinen Velohelm und sprintet los. Erst jetzt merke ich, dass ich viele Fragen gar nicht gestellt habe, die ich mir auf der Hinfahrt notiert hatte. Wir hatten kein Interview geführt — wir waren beim Essen ins Gespräch gekommen.